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Stefan Kühl

Rationalitätslücken als Ansatzpunkt einer soziologischen Beratung
Überlegungen zu einem "Quellcode" für einen sozialwissenschaftlichen Beratungsansatz

Unkorrigierte Fassung – Unvollständiges Literaturverzeichnis –

sk.deo@t-online.de

Einleitung

Liest man die Berichte und Darstellungen über Veränderungsprojekte in Unternehmen, dann zeichnen sich diese durch ein hohes Maß an Konsistenz, Schlüssigkeit und Rationalität aus. Unabhängigkeit ob es sich um die Einführung eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses, die Entwicklung einer neuen Unternehmensstrategie oder die Etablierung einer teamorientierten Aufbauorganisation handelt – die Erfolgsgeschichten sind in der Regel Schilderungen von rational geplanten Reorganisationen. Zwar wird von Hindernissen, Widerständen, Unwägbarkeiten und Unvorgesehenem berichtet, aber diese Probleme werden in der Regel von den Prozessverantwortlichen (die häufig identisch mit den Autoren der Beiträge sind) durch einen plötzlichen Einfall, ein neu entwickeltes Werkzeug oder durch eine gewagte Intervention erfolgreich bewältigt. In einem gut geplanten und flexibel angelegten Reorganisationsprozess, so der Tenor der Darstellungen, sind die Beteiligten in der Lage auch mit solchen Herausforderungen umzugehen.

Diese rationalen Beschreibungen von Veränderungsprojekten, die man schon in so prominenten Schilderungen wie die Einführung von Divisionsstrukturen bei Dupont, der Einführung des Fließbandes bei Ford oder die Entwicklung des japanischen Lean Managements vom Toyota Chef Ohno finden konnte, sind charakteristisch für Selbstbeschreibungen, die Organisationen von sich anfertigen (vgl. Kieser 1994: 199; Kieserling 1994: 4). Organisationen verstehen sich in der Regel als System zur Anfertigung rationaler Entscheidungen, in denen traditionelle Überlieferungen oder autoritäre Anweisungen eigentlich keinen Platz haben sollten. Irrationalitäten, Ignoranzen oder Vergesslichkeiten, so die Vorstellung, können eindeutig als Fehler oder abweichendes Verhalten markiert werden und bei entsprechender Bereitschaft und Befähigung der Beteiligten durch rationalere Entscheidungsprozesse ersetzt werden.

Diese stringenten und schlüssigen Selbstbeschreibungen, die man im Gros der Managementbücher, in vielen Artikeln der Wirtschaftspresse oder in den Foliengewittern auf Managementkonferenzen finden kann, stehen in auffälliger Diskrepanz zu den Beschreibungen, die man von distanzierten Beobachtern über Veränderungsprozesse hört. Da fällt auf, dass diese Fremdbeschreibungen mit den Selbstbeschreibungen der Organisation wenig zu tun hat. Da werden Reorganisationsprojekte gestartet, nur damit in der Organisation alles beim alten bleiben kann. Da werden trotz existierender Assessmentcenter Mitarbeiter nicht wegen ihrer Eignung eingestellt, sondern weil es gut etablierte Netzwerke zwischen den Absolventen einer Hochschule gibt. Da werden Markterfolge nicht als das Ergebnis umfassende Szenarien- und Strategiekonferenzen erzielt, sondern sie entstehen als das Ergebnis zufälliger Erfindungen oder plötzlicher Marktveränderungen. Das Leben in den Organisationen scheint viel aufregender zu sein als es die schlüssigen und rationalen Selbstbeschreibungen erscheinen lassen – und sie scheinen sich den rationalen Masterplänen des Change Management zu entziehen.

Organisationen, darauf hat James March einmal aufmerksam gemacht, verändern sich ständig und häufig, aber in der Regel nicht so wie es die Beteiligten in einer Organisation wollen. Unternehmen befinden sich in einem ständigen, routinemäßigen, mühelosen und reaktiven Veränderungsprozess, der sich aber – und das ist die Crux für die Beteiligten - nicht nach Belieben steuern lässt. Organisationen reagieren auf die Umwelt, aber sie verändern sich dann nicht wie es eine Gruppe aus Managern und Beratern ausgeheckt hat. Manchmal werden die Anweisungen nicht befolgt. Manchmal werden sie stärker umgesetzt als man eigentlich bezweckt hat. Nur ganz selten scheinen Organisationen genau das zu tun, was man ihnen aufgetragen hat. (vgl. March 1990b: 188f)

Eine soziologisch aufgeklärte Beratungstheorie und –praxis muss diese Diskrepanz zwischen den rationalen, schlüssigen Selbstbeschreibungen der Organisation und den wahrzunehmenden paradoxen Effekten, Ungereimtheiten, Steuerungsschwierigkeiten ernstnehmen (und erklären können). Es reicht dabei nicht aus – wie es in einem Strang der systemischen Beratung getan wird – den rationalen Selbstbeschreibungen der Organisation lediglich eine alternative Beschreibungsform entgegenzusetzen. Eine soziologische Beratungstheorie muss sowohl die Widersprüchlichkeiten und Ambiguitäten in Organisationen als auch die vereinfachenden Selbstbeschreibungen in ihren Funktionalitäten erklären können. Es geht quasi um Metaperspektive, in der die simplifizierenden, mythisch und fiktiv wirkenden Beschreibungsansätze nicht als zu verurteilende Kontrastfolie gesehen werden, sondern in ein übergreifendes Organisationskonzept integriert werden. Sowohl die für den Beobachter simplifizierend wirkenden Selbstbeschreibungen der Organisation als auch die komplexitätsaufbauenden (in ihrer Form aber auch wieder simplifizierenden) Fremdbeschreibungen müssen in einem umfassenden soziologischen Beratungstheorie und -praxis integriert sein.

Es kann nicht Aufgabe dieses Artikels sein, eine solche Beratungstheorie und –praxis in ihren verschiedenen Facetten zu entwickeln. Es geht mir vielmehr, darum zu prüfen, ob sich das Konzept der "Rationalitätslücke" (oder besser "Zweckrationalitätslücke") als eine Art "Quellcode" für eine soziologisch aufgeklärte Beratung eignet. Unter "Quellcode" wird in der Informatik ein Basisprogramm im Betriebssystem verstanden, auf dem alle anderen Anwendungsprogramme aufbauen können. Die Diskussion über einen "Quellcode" für eine soziologische Beratung halte ich für sinnvoll, weil es ermöglicht die Beratungsdiskussion darauf zu fokussieren, aus welchen Wurzeln eine soziologische Beratung erwachsen kann und wie sie sich dadurch von anderen Beratungsansätzen unterscheidet. Die Hoffnung wäre, dass die in der Beratungsszene beginnende Diskussionen über den Wandel von offensichtlichen und versteckten Strukturen, über die Bedeutung von Macht in Beratungsprozessen und die Rolle von Mythen und Fiktionen könnten so in ein umfassenderes Verständnis von Beratung und Organisation eingeordnet werden kann.

2. Organisationsstrukturen und Rationalitätslücken: Warum es in Organisationen Widersprüchlichkeiten gibt?

Wenn man sich als Außenstehender intensiv mit einer größeren Unternehmung, einer Verwaltung oder einem Verband beschäftigt, stellt sich nicht selten eine Ehrfurcht ein, dass bei allen zu beobachtenden Widersprüchlichkeiten, Ungeklärtheiten, chaotischen Abläufen und Überraschungen am Ende ein mehr oder weniger überzeugendes Produkt herauskommt. Beim Studium der vielfältigen Strategien, mit denen in einem Automobilkonzern die Produktionsplanungssysteme im Werkstattbereich "per hand" und "unter der Hand" angepasst werden, überrascht es, dass am Ende eine nicht unerhebliche Anzahl von VW Golfs das Fließband verlassen. Es verwundert auf den ersten Blick, dass trotz der chaotisch wirkenden Abläufe bei der Deutschen Bahn am Ende des Tages ein überzeugender Prozentsatz der Züge (wenn auch mit gelegentlichen Verspätungen) ihren Zielbahnhof erreicht.

Organisationen grenzen sich – bei allem Chaos - in ihrer Zuverlässigkeit auffällig von anderen sozialen Ordnungen wie Treffen in Freundeskreisen, sozialen Bewegungen oder religiösen Initiativen ab. Freundeskreise, soziale Bewegungen oder religiöse Initiativen weisen nicht den gleichen Grad von Berechenbarkeit auf wie Organisationen. Bei DaimlerChrysler oder beim Außenministerium weis man in der Regel, welche Stimmen aus dem Verwaltungszentrum als Meinung der Gesamtorganisation zu begreifen sind und welche eher als persönliche Stellungnahme wahrgenommen werden sollten. Bei Freundeskreisen, Bewegungen und Initiativen ist diese Eindeutigkeit nicht so leicht herstellbar. Wer war der Sprecher der Friedensbewegung? Wer hat das Recht im Namen eines Freundeskreises zu sprechen?

Dies hängt auch damit zusammen, dass es Organisationen gelingt im Vergleich zu anderen sozialen Ordnungen eine gewisse Dauerhaftigkeit herzustellen. Im Vergleich zu vielen Organisationen scheinen auch der sich auf Kneipentour befindliche Freundeskreis, die Bewegung zur Verhinderung amerikanischer Mittelstreckenraketen oder die Jugendinitiativen zur Verhinderung vorehelichen Geschlechtsverkehrs amerikanischer Teenager schnell wieder von der Bildfläche zu verschwinden. Organisationen gelingt es auch – wie es die Fälle des YMCA oder der Scientology Kirche zeigen – radikale Zweckwechsel beispielsweise von einer religiösen Vereinigung zu einer profitorientierten Unternehmung durchzuführen ohne ihr Klientel oder ihre Mitarbeiter allzu sehr zu verwirren.

Organisationen scheinen über "Tricks" zu verfügen, die internen Kommunikationsprozesse beständig, berechenbar und regulierbar zu machen und so zu verhindern, dass die internen Prozesse zu einer reinzufälligen Ansammlung von Kommunikationen "verkommen". Die Worte, die in der Organisationspraxis und der Organisationswissenschaft für diese Tricks gebraucht werden, sind "Organisationsstruktur" oder "Entscheidungsprämissen". Sie dienen dazu, dass Entscheidungen nicht als ein einmaliges Ereignis verpuffen, sondern ihnen eine Dauer verliehen werden kann.

Die Mitarbeiter sind über Mitgliedsrollen an diese Strukturen gebunden. Wenn man als Person in eine Organisation kommt, kann man nicht einfach irgend etwas machen. Die Zugehörigkeit zu einer Organisation ist nicht wie bei der Mitgliedschaft in einer Familie oder einem Staatswesen natürlich gegeben. Sie hängt vielmehr davon ab, ob man sich an die Erwartungen hält, die an ein Mitglied gestellt werden. Die Verantwortlichkeiten, Weisungshierarchien, Kontrollmechanismen, Ämterstrukturen, Kommunikationswege, Ressourcenverteilung müssen eingehalten werden, sonst drohen Sanktionen der Organisation. Über die formulierten Mitgliedschaftserwartungen können Unternehmen, Verbände, Verwaltungen und andere Organisationen sicherstellen, dass die Organisationsmitglieder Handlungen ausführen, die nicht unbedingt in ihrer eigenen tiefergehenden Motivationsstruktur begründet liegen. Niklas Luhmann prägnant dazu: "Die Soldaten marschieren, die Schreiber protokollieren, die Minister regieren – ob es ihnen in der Situation nun gefällt oder nicht." (Luhmann 1975c: 12; siehe auch Luhmann 1994a: 89f; Deutschmann 1987: 135; Schimank 1997: 312)

Die "Organisationsstrukturen" oder "Entscheidungsprämissen" sind auf den ersten Blick erst einmal Einschränkungen. In den Organisationen wird sehr viel Phantasie und Zeit darauf verwendet, über Personaleinstellungsverfahren, Arbeitsverträge, Arbeitszeitgestaltungen, Arbeitsteilungen, Controllingmechanismen, Stellenhierarchien die Vielfalt an Kommunikation einzuschränken (vgl. Baecker 1997b: 20). Alle Strukturen verhindern erst einmal eine Vielzahl von Kommunikationsmöglichkeiten. Eine Arbeitszeitregelung beschränkt, wann in einer Organisation kommuniziert (das heißt marschiert, protokolliert oder regiert) werden darf. Eine Stellenhierarchie legt fest, wer mit wem offiziell reden darf und wer nicht. Die Arbeitsteilung bestimmt, wer welche Arbeiten machen muss und (ganz besonders interessant) wer welche Arbeiten nicht verrichten darf.

Durch diese Strukturen, entwickeln Organisationen einen hochselektiven Blick. Sie entwickeln eine hohe Sensibilität für Bestimmtes und eine ausgeprägte Insensibilität für alles übrige. Ein deutscher Automobilkonzern interessiert sich nicht für die Änderung der Agrarbestimmungen in Frankreich (und hat auch keine Routinen um diese wahrzunehmen). Eine Internetfirma hat kein Auge für die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt für Reinigungsfachkräfte (außer wenn sie virtuelle Reinigungstätigkeiten anbietet). Eine Firma, die keine Schichtarbeit nötig hat, entwickelt keine Routinen, um die neusten Studien zur Belastung bei Nachtarbeit wahrzunehmen. (vgl. Luhmann 1993s: 250; Groth 1999: 74)

Dieses hohe Maß an Selektivität ist funktional, weil nur so sich eine Organisation gegenüber ihrer Umwelt abgrenzen kann. Organisationen, so könnte man überspitzt ausdrücken, können nur existieren, weil sie sich durch ihre Strukturen einen hochselektiven Blick geben und sich so gegen die Komplexität der Welt abschotten.

Aufgrund der Begeisterung dafür, wie Organisationen in der Lage sind Operationen auf Dauer zu stellen, hat sich in Teilen der Managementlehre, Betriebswirtschaft und Verwaltungswissenschaft die Metapher der Maschine durchgesetzt. Die Überlegung ist gewesen, dass Organisationen wie Maschinen ihre Komplexität dadurch reduzieren, dass sie einen eindeutigen Zweck haben und alle Mittel auf diesen einen Zweck ausgerichtet werden. Organisationen sollen wie Maschinen nach einem genauen Plan funktionieren und dabei möglichst wenig Reibungsverluste haben. Organisationen sind dabei wie Maschinen ein in sich geschlossenes Ganzes, dass sich aus präzise definierten Einzelteilen zusammensetzt. Die Funktion dieser Einzelteile ist strikt auf die Funktion der Maschine als Ganzes ausgerichtet. Um die Gesamtfunktion zu gewährleisten, müssen die Beziehung zwischen diesen Einzelteilen in eindeutigen Wenn-dann-Ketten geordnet werden. (Bardmann 1994: 260f; Luhmann 1997: 153)

Mit der folgenden Ableitung der Rationalitätslücke bin ich noch sehr unzufrieden. Ich würde mich freuen, wenn dieser Punkt in der Diskussion vertieft werden könnte.

Aber diese Beschreibungen als Maschinen scheinen (vorsichtig formuliert) für die meisten Organisationen nicht zuzutreffen. Die Strukturbegeisterung in der frühen Organisationstheorie, die Planungseuphorien der sechziger und siebziger Jahre und die Beschreibungen von Unternehmen in Maschinenmetaphern wird zunehmend mit Stichwörtern wie "Unsicherheit", "Unsteuerbarkeit", oder "Kontingenz" in Frage gestellt. Diese Stichwörter weisen auf etwas hin, was man als "Rationalitätslücken" oder "Zweckrationalitätslücken" bezeichnen kann. Der Begriff der "Rationalitätslücken" oder genauer der "Zweckrationalitätslücken" bezeichnet die Unmöglichkeit, Organisationen ausgehend von einem Metazweck durchzukonstruieren. Was steckt hinter diesem Gedanken?

Erstens gibt es die folgeschwere Situation, dass es keine eindeutige Umwelt gibt, auf die sich eine Organisation beziehen kann. Durch die verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie ist empirisch herausgearbeitet worden, dass Organisationen in der Regel auf der Basis einer Vielzahl von inkonsistenten und schlecht definierten Präferenzen operieren. (March/Simon 1976; Cohen/March/Olsen 1990: 330f). Unternehmen können sich nicht alleine auf das Ziel der Profitmaximierung konzentrieren. Sie müssen beispielsweise auch Anforderungen der Politik, der Gewerkschaften, der Verbraucherverbände oder von Umweltschutzinitiativen in ihr Kalkül aufnehmen. Da eine Abteilung damit überfordert wäre, alle verschiedenen Umweltanforderungen gleichzeitig zu bearbeiten, bilden Organisationen intern verschiedene Funktionsbereiche aus, die jeweils auf die Bearbeitung einer Umweltanforderung spezialisiert sind. Die Abteilung Marketing und Verkauf ist das Scharnier zum Kunden. Die Abteilung Public Relation sorgt dafür, dass die Politik ein möglichst positives Bild der Organisation hat. Die Rechtsabteilung kümmert sich um Legalitätsprobleme und die Abteilung Arbeitspolitik besänftigt die Gewerkschaften.

Dadurch das die unterschiedlichen Umweltanforderungen in der Organisation selbst abgebildet werden, entstehen inkonsistente Organisationen. Die Auseinandersetzung zwischen Rechtsabteilung, dem Bereich Forschung- und Entwicklung, der Presseabteilung und der Stabsstelle Arbeitspolitik, ob ein Produktionsverfahren eingeführt wird oder nicht, ist ein Konflikt, der durch die unterschiedlichen Umweltbezugspunkte der einzelnen Abteilungen entsteht. Konsequenz dieser Ausrichtung der Organisation auf ganz verschiedene Umwelten ist, so Veronika Tacke, dass zwar unterschiedliche Umweltanforderungen bearbeitet werden können, jedoch die Organisation intern keine Rationalisierung mehr in Hinblick auf lediglich ein Bezugsproblem vornehmen kann. (Tacke 1997a: 12; siehe auch Buenger/Daft 1988: 198; Luhmann 1994a: 196). Die stringente auf einen Zweck ausgerichtete Organisation ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Zweitens gibt es keinen Urgrund, auf den sich die Organisation mit ihren Strukturen beziehen kann. Es gibt, so Luhmann, keine abstrakte Rationalitätsgarantie etwa in der Form von Prinzipien, die lediglich über Entscheidungsprämissen in Entscheidungen übersetzt werden müssten. Organisationen seien vielmehr nichttriviale Systeme, die sich "laufend in einen bestimmten konkreten Zustand versetzen, auf den sie sich beziehen müssen, wen sie entscheiden wollen, wie es weitergehen soll." Dieser Bezugspunkt der operativen Selbstreferenz (der jeweils realisierte Zustand) kann nur in sehr groben Umrissen antizipiert werden. Begriffe wie "Zeit" und "Zukunft" hätten genau den Sinn, die Unbestimmbarkeit in die Gegenwart einzuführen. Die Koordination von Entscheidungsprämissen muss gemacht werden, aber sie ist lediglich eine Kompensation für das Unvermögen der Organisation, die konkreten historischen Systemzustände vorauszusehen und zu determinieren. (Luhmann 1997: 193)

Drittens determinieren die Organisationsstrukturen nicht, welche Entscheidungen in einer Organisation getroffen werden. Die Festlegung eines komplexen Anweisungs- und Informationsweges schließt nicht aus, dass Mitarbeiter sich ganz unabhängig von dem hierarchischen Regelwerk unterhalten. Hierarchie kann nicht endgültig verhindern, dass die Mitarbeiterin aus der Abteilung A mit dem Mitarbeiter B den Dienstweg sträflich missachten und am Kantinentisch darüber diskutieren, wie ein Problem zwischen den Abteilungen zu lösen ist. Eine technisch ausgefeilte Fließbandproduktion kann nicht völlig ausschließen, dass die Mitarbeiter in Eigenregie sinnvolle oder nicht sinnvolle Abkürzungen und Vereinfachungen vornehmen. Die Einstellung einer Juristin als Leiterin der Personalabteilung kann nicht gewährleisten, dass alle Personalentscheidungen unter dem Primat des Rechtssystems getroffen werden. Organisationsstrukturen bzw. Entscheidungsprämissen machen bestimmte Entscheidungen wahrscheinlicher und andere unwahrscheinlicher, aber sie determinieren Entscheidungen in der Regel nicht.

Viertens können hochstandardisierte Entscheidungsabläufe nur dann ausgebildet werden, wenn andere Teile der Organisation sich darauf spezialisieren, die Umweltunsicherheiten in eindeutige Anweisungen zu übersetzen. Selbst dort wo Teile der Organisation scheinbar eindeutig zweckrational ausgerichtet werden können, würde man sich täuschen, wenn man diese Vorgehensweise als Gesamtmodell für die Organisation proklamieren würde. Es ist möglich in Teilen der Organisation eindeutige Wenn-dann-Programme einzuführen. Eine Fließbandproduktion oder ein hochstandardisiertes Callcenter entsprechen sicherlich auf den ersten Blick dem Bild einer Maschinenorganisation. Diese standardisierte, zweckrationale Organisationsform, darauf hat James Thompson (1967) aufmerksam gemacht, wird jedoch dadurch erkauft, dass spezielle Einheiten ausgebildet werden müssen, die nichts anderes zu tun haben, als die von außen kommende Unsicherheit in eindeutige Anweisungen für den zweckrational ausgerichteten "technischen Kern" zu übersetzen.

Diese Rationalitätslücken äußern sich in einer Vielzahl von Dilemmata, Widersprüche und Paradoxien. Unternehmen brauchen beispielsweise klare Zielvorstellungen, aber auch die Bereitschaft, möglicherweise von den festgelegten Zielen abzuweichen. Es ist sinnvoll, dass sich Mitarbeiter mit Prozessen identifizieren, gleichzeitig behindert diese Identifikation aber auch die notwendigen Veränderungen. Eine Beteiligung von Mitarbeitern kann Wandlungspotenziale freisetzen, eine zu starke Einbeziehung der Mitarbeiter erschwert jedoch die Fokussierung des Unternehmens. Selbstorganisation kann hilfreich sein, weil Lösungen vor Ort entwickelt werden, häufig gewährleistet jedoch die Fremdorganisation eine höhere Originalität der Lösung. Unternehmen sehen sich der Notwendigkeit ausgesetzt, in Organisationen Freiräume für Innovationen zu schaffen. Dieser Aufbau von Puffern lässt jedoch häufig den organisatorischen Schlendrian einziehen. Organisationen sind auf erfolgreiche Lernprozesse angewiesen, aber gerade erfolgreiche Lernprozesse sind für den Niedergang von Unternehmen verantwortlich. Deswegen kann gerade die Vermeidung von Lernen eine sinnvolle Strategie sein. (vgl. Kühl 2000: 152ff)

Die in Organisationen vorhandenen Rationalitätslücken sind in letzter Konsequenz die einzige Existenzberechtigung für Führungskräfte (und für Berater). Wenn alle Mitarbeiter in eindeutige Wenn-dann-Programme eingebunden sind, also bei einer vorher definierten Situation lediglich eine vorher festgelegte Reaktion zeigen müssen, dann sind Führungskräfte überflüssig. Das Geschehen erweckt den Eindruck von Naturgesetzlichkeiten, die durch die "Wiederholung des immer Gleichen" fortwährend aufs Neue stabilisiert werden. Erst wenn es mehrere konkurrierende Ziele gibt, die Umstände nicht völlig gleich sind und Widersprüchlichkeiten und Unschärfen auftreten sind Manager notwendig, um diese Unklarheiten zu handhaben. (vgl. Barnard 1938: 21; Neuberger 1990: 146; Neuberger 1995b: 102; Fontin 1997: 59).

Durch die Bearbeitung der Rationalitätslücken durch Führungskräfte (und Berater) werden diese jedoch nicht aus der Welt geschaffen, sondern vielmehr in eine bearbeitbare Form gebracht. Widersprüchlichkeiten lassen sich von Führungskräften in der Regel nicht auflösen, sondern es lassen sich nur mehr oder minder geeignete Umgangsformen dafür finden. Dilemmata und Paradoxe werden in Organisationen eher neutralisiert als gelöst. (Weick 1985: 351; Handy 1994: 11)

3. Der Umgang mit den Rationalitätslücken in der "klassischen" Experten- und Prozessberatung

Auf welche Weise wird mit diesen Rationalitätslücken in Beratungsprojekten umgangen? Die "klassischen Beratungsansätze" - die Expertenberatung und die an der Organisationsentwicklung orientierten Prozessberatung - würden nicht bestreiten, dass es solche Rationalitätslücken in Organisationen gibt. Im Gegenteil: Häufig wird in der Acquisephase eine dramatische Skizze von Rationalitätslücken in Unternehmen und derer Folgen gezeichnet. Die Unternehmensspitze wird von den Beratern auf die in den Vorgesprächen festgestellten Ungereimtheiten, Irrationalitäten und Unschlüssigkeiten hingewiesen. In drastischen Worten werden die "Megatrends" Globalisierung, Digitalisierung und Wertewandel und ihre Folgen für die Unternehmen dargestellt. Es wird mit Verweis auf Best-Practice-Unternehmen herausgearbeitet, wie intelligent die Konkurrenz bereits auf diese Herausforderungen reagiert und wie rückständig das Kundenunternehmen ist.

Zweck dieser Darstellungen ist nicht ein möglichst komplexes "objektives" Bild der Umwelt eines Unternehmens zu zeichnen, sondern vielmehr eine Sensibilität für vermeintliche Handlungsnotwendigkeiten des Unternehmens zu schaffen. Die möglichen Rationalitätslücken der Unternehmen werden drastisch dargestellt, weil sich an diese Verunsicherung eines Unternehmens die Beratungsfirmen mit ihren Projekten anlagern können.

Das Besondere der klassischen Experten- und Prozessberatungsansätze ist, dass sie die für ihre vermeintlichen Rationalitätslücken sensibilisierten Unternehmen mit einer verlockenden Zukunft konfrontieren. Die Klienten werden mit einem "schöneren Bild" der Organisation konfrontiert, das durch einen Beratungsprozess erreicht werden könnte. Die von Beratungsfirmen aufgegriffenen oder teilweise auch selbst produzierten Organisationsleitbilder wie Lean Management, Fraktales Unternehmen, segmentierte Firma oder wissensbasierte Organisation stellen die Farbelemente auf der Palette von Beratungsfirmen dar, mit denen für jedes Unternehmen ein mehr oder minder spezifisches Bild der verlockenden Zukunft gemalt wird.

Expertenberatung und die an dem Paradigma der klassischen Organisationsentwicklung orientierte Prozessberatung unterscheiden sich nicht darin, dass ein schönes Bild der "zukünftigen Realität" gemalt wird, sondern nur darin, wie dieses schöne Bild entsteht. Bei der Expertenberatung á la McKinsey, Arthur Anderson oder Roland Berger ergreift der Berater selbst den Pinsel und zeichnet ein Bild, dass dem Auftraggeber (nicht unbedingt allen Mitarbeitern) attraktiv erscheint. Dieses Bild in Form eines Gutachtens oder einer Präsentation ist im Idealfall so konkret und greifbar, dass sich der Auftraggeber nur dafür entscheiden muss, dieses Bild an die Wand seines Büros zu hängen und die Organisation gemeinsam mit den Beratern nach diesem Bild umzubauen. Bei einem Organisationsentwicklungsprozess wird das Bild nicht von den Beratern gemalt, sondern es wird dem Auftraggeber vermittelt, dass man als Berater sowohl die Farben als auch die handwerklichen Fähigkeiten hat, um gemeinsam mit den Mitarbeitern ein attraktives Bild des Unternehmens zu zeichnen und die Organisation dann gemeinsam nach diesem Bild umzubauen.

Bei allen Unterschieden in der Durchführung des Malprozesses haben beide Ansätze gemein, dass sie auf einer "Ästhetisierung" der Unternehmenszukünften aufbauen. Als Ästhetisierung hat Oswald Neuberger (1994) den Prozess beschrieben, mit dem in Unternehmen durch gefilterte Reportings, Organigrammen oder Netzplänen ein Bild des eigenen Unternehmens gezeichnet wird, das mit der Dynamik, Vielfältigkeit und Mehrdeutigkeit in Unternehmen nichts oder nur wenig zu tun hat. Im trügerischen Windschatten ausgegrenzter Komplexität und ungelöster Konflikte wird eine zweite Realität kultiviert, die mit der Realität inner- und außerorganisatorischer Prozesse nicht zu tun hat (vgl. Weltz/Ortmann 1992). Letztlich, so Neuberger (1994), käme in diesen Ästhetisierungen die unausgesprochene Managersehnsucht nach Unternehmen als stimmiges und harmonisches Gesamtkunstwerk zur Geltung.

Die Ästhetisierung im Beratungsprozess hat die Besonderheit, dass sie sich der häufig zu hörenden Kritik, dass das ästhetische Bild des Unternehmens nichts mit der Realität des Unternehmens zu tun hat, mit dem geschickten Verweis auf ihre "Zukünftigkeit" entzieht. Die ästhetischen Bilder bedienen die gleiche Managersehnsucht nach Unternehmen als stimmige und harmonische Gesamtkunstwerke, ohne sich jedoch dem Vorwurf einer Diskrepanz zwischen der eigenen Realität und diesem Bild auszusetzen. Im Gegenteil: Die Diskrepanz zwischen der realen Dynamik, Vielfältigkeit und Mehrdeutigkeit des Unternehmens und des harmonischen und schlüssigen Gesamtbildes eines Masterplanes werden vielmehr Grund für einen Veränderungsprozess angegeben.

Es handelt sich dabei um eine Idealisierung der Zukunft, bei gleichzeitiger Schlechtmachung der Vergangenheit. Veränderungsprojekte, Change-Prozesse und Reformen, so Luhmann, seien in dieser Form Defizienzbeschreibungen vor dem Hintergrund der Annahme, dass man es besser machen könne. Die Vergangenheit werde schlecht gemacht, damit die Zukunft besser sein kann. Die faktische Realität wird mit contrafaktischen Idealen aufgepumpt, um die Hoffnung zu näheren, dass sich die Organisation irgendwann einmal in die Richtung dieser Ideale bessern lassen und alle Mitarbeiter vom "Guten, Wichtigen und Richtigen" überzeugt sind. (vgl. Luhmann 1997: 292; Bardmann 1997: 53)

Diese Diskrepanz zwischen "Ist-Zustand" und "Soll-Zustand" ist in den klassischen Beratungsprozessen ein zentraler Motor für den Veränderungsprozess. Die Energie entsteht dadurch, dass die "Masterpläne", "Visionen" und "Sollzustände" attraktiver, einfacher und einleuchtender wirken als die als chaotisch wahrgenommene Realität. Es wird suggeriert, dass Unternehmen durch den Beratungsprozess zu einer schlüssigeren, konsistenten und letztlich rationaleren Funktionsweise kommen können, durch die letztlich alle Mitarbeiter gewinnen würden. Die Energie für Veränderung entsteht dadurch, dass Veränderungsprojekte in ihren guten Absichten nur schwer zu wiederlegen sind, weil der "Härtetest ihrer Vorhaben" noch aussteht. (Luhmann 1997: 289)

Aus meiner Sicht liegt in diesem Arbeiten mit Soll-Ist-Diskrepanzen die Ursache für die komplexen Steuerungs- und Planungsvorstellungen, wie sie einen Großteil der Beratungsprojekte dominieren. In dem Moment, in dem der Berater mit ästhetisierten Zukunftsentwürfen arbeitet, muss er für sich in Anspruch nehmen, dass er zwischen der Realität und den Zukunftsentwürfen eine Kausalverbindung herstellen kann. Sonst würden die Soll-Zustände als Hirngespinste ohne Wirkmächtigkeit dastehen. Berater müssen Unternehmen deutlich machen, dass sie nicht nur Mängel erkennen können und bei der Erarbeitung von Lösungen beitragen können, sie müssen auch behaupten, dass sie über die Instrumente verfügen, die mangelhafte Organisation und die entwickelte Idealvorstellung miteinander in Beziehung zu setzen (vgl. Brunsson 1989: 224f).

Dieser Anspruch Gegenwartsbeschreibungen und Zukunftsentwürfe miteinander in Verbindung zu setzen führt zu den "Vorstellungen von geplantem Wandel" (vgl. Kimberly 1988: 165), "rationalistischen Sichtweisen des Managements von Veränderung" (vgl. Faust et al. 1994: 76f) oder zu "synoptischen Planungsphilosophien" (vgl. Schreyögg 1984: 134f). Dabei wird davon ausgegangen, dass im Beratungsprozess Probleme des Unternehmens bei dem Ziel der Profitmaximierung identifiziert und daraus Strategien entwickelt werden, mit der die Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden kann. Die Argumente für diese Strategien werden dann allen Mitarbeitern vermittelt und im Unternehmen umgesetzt.

Im Ablauf solcher Planungs- und Beratungsprozesse wird jedoch deutlich, wie sich die Idee oder die Strategie abnutzt, ihre Attraktivität verliert. Je konkreter ein Masterplan in die Realität umgesetzt wird, desto klarer wird dass dieses Konzept ähnliche Widersprüchlichkeiten birgt wie alle anderen vorher bekannten Organisationskonzepte. Je stärker das Soll-Ziel in einer Organisation umgesetzt wird, desto deutlicher werden die Brüche in der Zielvorstellung. Je intensiver Leitvorstellungen von Lean Management und Business Process Reengineering umgesetzt wird, desto stärker werden deren blinde Flecke deutlich. Je stärker sich der Kaiser in der Öffentlichkeit zeigt, so schon die Einsicht der Jugendliteratur, desto deutlicher wird, dass er nackt ist.

Gegen dieses Brüchigwerden der Masterpläne und Soll-Zustände setzen dann häufig Immunisierungstendenzen sowohl der "Prozessherren" im Unternehmen als auch der beteiligten Berater ein. Eine erste unbewusste Immunisierungsstrategie besteht darin Fehler und Probleme im Beratungsprozess zu personalisieren. Das Nichterreichen des ästhetischen Idealbildes wird auf das widerständige Verhalten von Mitarbeitern, die Uneinsichtigkeit der mittleren Manager oder die Unfähigkeit eines bestimmten Beraters zurückgeführt. Es wird eine Diskrepanz zwischen den logischen, rationalem und schlüssigen Plan der zukünftigen Organisation und dem irrationalen, emotionalen Verhalten der Mitarbeiter aufgebaut. Es existieren in solcher Phase dann permanente Erklärungen wie "Wenn die Mitarbeiter mitziehen würden...", "Wenn der Berater diesen Aspekt nicht übersehen hätte..." oder "Wenn das Vorstandsmitglied seine Energie nicht in andere Angelegenheiten gesteckt hätte...". Durch diese Zuweisung von Problemen und Fehlern auf Personen wird das ästhetische, harmonische Zielbild der Organisation aufrechterhalten, weil die Probleme außerhalb des Systems (bei der Persönlichkeitsstruktur von Menschen) gesucht werden. (vgl. Kieserling 1993: 22) Der Plan war gut, bloß leider waren die Menschen noch nicht weit genug.

Die zweite unbewusste Immunisierungsstrategie besteht darin, auf die Probleme im Beratungsprozess dadurch zu reagieren, dass eine permanente Neudefinition des harmonischen, ästhetischen Zukunftsmodell betrieben wird. In Zielanpassungsworkshops werden die bisherigen Erfahrungen reflektiert und der Zielkatalog immer wieder neudefiniert. Es wird dabei nicht die Vorstellung einer harmonischen, ästhetischen Organisation aufgegeben, sondern sie wird lediglich in eine unbestimmte Zukunft verschoben. Es ist als wenn der Berater suggeriert, dass das Bild, an dem er arbeitet, noch nicht fertig ist, sondern immer noch angepasst werden muss.

Über die Identifizierung mit dem ästhetischen Bild der Organisation wird der Berater blind für eigene Rationalitätslücken. Die "Füllung", die sie für Rationalitätslücke des Kunden vorgeschlagen haben, wird jetzt gegenüber Einwänden hochgehalten. Es wird dabei ein eigenes ästhetisches Bild der Organisation geschaffen, das dann mit aller Kraft verteidigt werden muss. Man sieht dann die Rationalitätslücken in der Ausgangsorganisation, kann aber nicht mehr erkennen, welche Rationalitätslücken sich in seiner eigenen Konzeption ausbilden.

4. Die Grenzen der Steuerbarkeit von Organisationen

In der Zwischenzeit kursieren in den Unternehmen eine Vielzahl von Anekdoten, Geschichten und Witzen über Berater. Da werden die Berater als junge "Notebook-Ritter" beschrieben, die zwar mehr als 47 Liebesstellungen kennen (beherrschen) würden, aber keine einzige Frau. Es wird die Geschichte vom Arthur Anderson Consultant verbreitet, der unter dem Einsatz neuster technischer Hilfsmittel die genaue Größe einer Schafsherde errechnet, vom Hirten als Honorar ein Schaf kassieren will und vor lauter Unkenntnis der Materie nicht ein Schaf, sondern einen Hirtenhund einsteckt. Mitarbeiter mokieren sich über die "Schrankware", die durch die Vielzahl von Beratungsfirmen produziert wird – nutzlose Gutachten auf Hochglanzpapier, die in den Aktenschränken der Firma versauern, ohne in irgendeiner Form wirkmächtig zu werden.

Alle diese Anekdoten, Geschichten und Witze spielen auf die überzogenen Steuerungsvorstellungen an, mit denen Expertenberater in Organisationen hereinkommen. Sie nehmen jedoch aus meiner Sicht die Funktionalität der sich in einem rationalistischen Paradigma bewegenden Berater nicht ernst genug. Sie orientieren sich lediglich an den Versprechungen der Beratungsfirmen und nicht an den unausgesprochenen Funktionen dieser Berater. Es gibt aus meiner Sicht eine Vielzahl von latenten Funktionen, die die mit klassischen Expertenberatungsansätzen arbeitenden Berater in Unternehmen erfüllen. Berater werden, so die Vermutung, für vieles gebraucht, selten jedoch genau für das, was in ihren Lastenheften steht.

Eine erste Funktion ist, dass durch an Masterplänen arbeitende Berater "Paketlösungen" für die Organisation produziert werden. Diese wirken gerade für das Top-Management angstreduzierend. Es wird den Beteiligten suggeriert, dass sie zwar angesichts von Globalisierung, Digitalisierung und Wertewandel in Bedrängnis geraten, es jedoch operationalisierbare Lösungen gibt, mit denen sie diesen Herausforderungen begegnen können. Die Programme zur Unternehmensverschlankung hatten genau eine solche Funktion. Es wurde den Managern suggeriert, dass die Gefahr durch die japanische Konkurrenz zwar enorm sei, es aber ein Programm gebe, mit denen man dieser Gefahr entgegentreten könnte.

Eine zweite Funktion ist, dass Masterpläne, Leitbilder handlungsmotivierend wirken. Masterpläne, genaue Projektplanungen können uns zu Handeln motivieren: Es wird ein "wir können es schaffen" in der Organisation verbreitet. Detaillierte Zeitpläne, ausgearbeitete Penetrierungsstrategien von neuen Märkten, Effizienzberechnung der zukünftigen Organisationsstruktur vermitteln den Betroffenen das Gefühl, dass die entworfenen Pläne einen hohen Realitätsgehalt haben und von der Organisation erreicht werden können. Die ausgefeilten Strategiegutachten der Expertenberatungsfirmen haben ihren Nutzen darin, dass sie dem Auftraggeber suggerieren, dass eine schlüssige Alternative zur aktuellen Marktausrichtung existiert. Das kann ihn dazu motivieren, etwas neues zu wagen.

Eine dritte Funktion ist, dass die von Beratern verfassten oder von Organisationsentwicklern zusammen mit Mitarbeitern entwickelte Strategiepapiere, Einsparungsvorschläge und Masterpläne dem Management als Legitimation dienen können. Das Management ist in eine Vielzahl von Machtspielen eingebunden und radikale Einschnitte würden die Machtverflechtungen durcheinander bringen. Über Beratungsfirmen haben Manager die Möglichkeit Konzepte entwickeln zu lassen, die den Anschein von "Distanziertheit", "Objektivität" und "Rationalität" erfüllen und nicht sofort als Trumpfkarte in einem neuen Machtspiel zu erkennen sind.

Eine vierte Funktion ist, dass sich Unternehmen bei der Diskussion zukünftiger Strategien, Organisationsstrukturen oder Personalzusammensetzungen primär erst einmal über ihre eigene Gegenwart verständigen. Die grundlegende Diskussion über die Gegenwart an sich würde von Mitarbeitern leicht als Zeitverschwendung abgelehnt werden. In der Form der Auseinandersetzung über mögliche Zukünfte kann jedoch diese Gegenwart thematisiert werden, ohne dass diese aber direkt angesprochen werden muss. Auch wenn die Strategiepapiere und Marktpenetrierungskonzepte dann in den überfüllten Schubladen verschwindet, dann hat es doch wenigstens eine Verständigung über die Gegenwart gegeben. (vgl. Schnelle 2000)

Es ist aus meiner Sicht fraglich, ob das Management ohne weiteres auf diese versteckten Funktionen der klassischen Organisationsberatung verzichten kann. Eine soziologische Beratung muss sich die Frage gefallen lassen, ob sie für den versteckten Nutzen der klassischen Beratungsansätze funktionale Äquivalente parat hält. Meine Vermutung ist, dass sie auf den Einsatz von ästhetischen Unternehmensmodellen nicht völlig verzichten kann: Erstens mag es in der Acquisephase notwendig sein, sich an den aktuell gehandelten Unternehmensmodellen zu orientieren, um überhaupt an interessante Problembereiche der Organisation herangelassen zu werden. Zweitens benötigt der Auftraggeber häufig zum internen Marketing im Unternehmen einen schillernden Begriff, um sein Reorganisationsprojekt bewilligt bekommen. Drittens ist es manchmal auch nötig, die Experimente mit neuen Unternehmensstrukturen an einen aktuellen Managementdiskurs anzukoppeln, um ihnen so einen gewissen "Drive" zu geben.

Wo liegt jetzt der Fehler, den die klassische Experten- und Prozessberatung beim Einsatz dieser ästhetischen Managementbilder macht? Der Fehler wird bei diesen Beratungsansätzen gemacht, wenn die Berater anfangen selbst an die von ihnen produzierten ästhetischen Modelle für eine noch zweckrationalere Organisation zu glauben und ihre eigenen Erfolgskriterien an eine Umsetzung dieser Modelle knüpfen. Probleme, Akteure und Lösungen, so die grundlegende Einsicht der verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorie, sind in der Regel nur lose gekoppelt. Mit Sprüchen wie "Je planmäßiger die Menschen vorgehen, um so wirksamer trifft sie der Zufall" oder "Planung heißt bei uns den Zufall durch den Irrtum zu ersetzen" wird in Unternehmen darauf aufmerksam gemacht, dass zwischen den Masterplänen, den Strategiekonzepten und einer späteren Organisationswirklichkeit nur sehr lockere Verbindungen bestehen (vgl. Neuberger 1990b: 77).

Hier wird jetzt das Thompson-Argument wiederholt. Ich bin mir nicht sicher, ob es ein zuviel des Guten ist.

Die Vorstellungen von einer engen Kopplung zwischen Problemen und Lösungen, zwischen Masterplanen und späterer Organisationswirklichkeit basieren auf einer unzulässigen Generalisierung der nur begrenzt möglichen Technisierung von Organisationsprozessen. James Thomson hat darauf aufmerksam gemacht, dass es in Organisationen Versuche gibt im operativen, wertschöpfenden Kern die Abläufe durch isolierte Kausalketten berechenbar, routinisierbar und für Mitarbeiter einfach nachvollziehbar zu machen. Diese punktuelle Technisierung ist jedoch nur möglich, wenn die Unsicherheiten von anderen spezialisierten Einheiten bearbeitet werden. Sie kann deswegen nicht als generelles Erfolgsrezept für Organisationen dienen.

Die Thesen von der "Unsteuerbarkeit" und "Planungsillusion" zielen auf einen grundlegenden Gedanken ab: Organisationen passen sich permanent an veränderte Umweltbedingungen an, aber (aus der Sicht der Steuerer) "leider" nie so wie es die Unternehmensspitze oder die Berater gerne möchte. Der zentrale Grund dafür, darauf hat zuerst Niklas Luhmann (1997: 283) aufmerksam gemacht, ist, dass sich von Top-Managern oder Beratern nur die Strukturen der Organisation, nie aber die unmittelbaren Operationen, die alltäglichen Entscheidungen ändern lassen. Um sicher zu sein, dass die unmittelbaren Operationen vor Ort, die alltäglichen Entscheidungen in ihrem Sinne sind, müssten sie die Operationen und Entscheidungen schon selbst durchführen – aber das entspricht weder dem Rollenverständnis von Managern noch dem von Beratern.

Diesem Charakter von "Unsteuerbarkeit" wird implizit auch von Expertenberatungsfirmen und klassischen Organisationsentwicklern durch eine zentrale Verhaltensweise Rechnung gezollt: die Bezahlung nach aufgewandter Zeit und nicht nach Erfolg. Diese Vorgehensweise, die sich so auch bei Ärzten, Rechtsanwälten oder Theologen finden lässt, hängt damit zusammen, dass sich die Unsteuerbarkeit im Beratungsprozess für den Berater als "Technologiedefizit" oder "Standardisierungsproblem" äußert. Eine Tätigkeit ist so komplex, dass sie nicht in einzelne Komponenten zerlegt werden kann. Es ist nicht möglich, einen Arbeitsgang aus einer festen Folge von Schritten zu definieren (vgl. Wilensky 1972: 209).

Das Standardisierungsdefizit hat mehrere Konsequenzen für die Organisation einer Tätigkeit. Eine erste Konsequenz ist, dass es nicht möglich ist, den Erfolg einer Maßnahme eindeutig zu bestimmen und zu planen. Die Unsicherheiten in einer Tätigkeit sind so hoch, dass jeder beteiligte Akteur selbst bestimmen kann, was Erfolg bedeutet. Es werden deswegen in der Regel bei diesen Tätigkeiten auch keine Erfolgshonorare bezahlt, sondern Stundenlöhne oder Festsätze. Die Tätigkeiten von Mediziner, Juristen und Theologen sind Beispiele dafür, wie aufgrund der Unsicherheit in beruflichen Tätigkeiten erfolgsabhängige Honorare sich nicht durchsetzen konnten.

Eine zweite Konsequenz ist das Problem der Qualitätssicherung. Bei in einzelne Komponenten zerlegbare Tätigkeiten ist es möglich, vorweg Standards der Qualität zu definieren und am Produkt oder am Prozess zu überprüfen, ob diese Standards eingehalten worden sind. Man braucht sich lediglich den Produktionsprozess in einer Dosenfabrik anzusehen, um zu sehen, welche Rolle definierte und überprüfbare Qualitätsstandards z.B. in Form von ISO 9000ff-Normen spielen. Bei mit Unsicherheit belasteten Tätigkeiten ist diese Form der formalisierten Qualitätssicherung nicht möglich. Es lässt sich nicht eindeutig feststellen, ob eine Intervention den Qualitätsstandards entspricht.

Eine dritte Konsequenz ist, dass die Tätigkeiten nicht ohne weiteres erlern-, kopier- und automatisierbar sind. Die Tätigkeit kann nicht innerhalb von kurzer Zeit den meisten Menschen beigebracht und auch nicht hochautomatisierten Expertensystemen übertragen werden. Dies hat Auswirkung auf die Bezahlung dieser Tätigkeit. Je schwieriger das Erlernen dieser Tätigkeit und je geringer die Wahrscheinlichkeit, dass diese Tätigkeit Automaten übertragen wird, desto höher ist in der Regel die Bezahlung. Die Tätigkeiten, die stark durch Unsicherheit und Unbestimmbarkeit geprägt sind, wie zum Beispiel in der Medizin, Juristerei, Wissenschaft aber auch im Management wurden (was Medizin und Juristerei angeht jedenfalls lange Zeit) und werden hoch vergütet.

Meine These ist, dass die meisten Beratungsansätze die Auffassung von der Unsteuerbarkeit von Organisationen und das Standardisierungsdefizit in ihre Beratungsphilosophie aufgenommen haben, die konkrete Vorgehensweise in Beratungsprojekten sich aber nach wie vor an Steuerungsvorstellungen und Planungsillusionen orientieren. Zwar werden die brachialen Steuerungsphilosophien "Tue das und das, und Du wirst das erreichen" in der Zwischenzeit durch komplexere Steuerungsphilosophien ersetzt, aber nach wie vor wird davon ausgegangen das die durch Expertenwissen oder durch konsensuale Abstimmungsmechanismen festgelegten Ziele erreicht werden können.

5. Arbeit mit Widersprüchlichkeiten als Ansatzpunkt eines soziologischen Beratungsverständnisses

Von Beratern unterstützte Reformprojekte setzen in der Regel an den manifesten, sichtbaren und offensichtlichen Strukturen einer Organisation an. Es soll eine neue Vertriebsstruktur aufgebaut werden, um ein neues Marktsegment aufzubauen. Es soll eine neue "kommunikationsunterstützende Architektur" des Unternehmens geschaffen werden oder neue Maschinenanordnung vorgenommen werden. Die Rechtsstruktur einer Unternehmenseinheit soll geändert werden. Die Personalstruktur soll geändert werden und beispielsweise zusätzliche ausländische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingestellt werden. Die Abläufe einer Organisation sollen neue konzipiert werden.

Das sich Veränderprojekte an solchen manifesten Strukturen orientierten ist nachvollziehbar, weil die sichtbaren Strukturen in einer Organisation allgemein bekannt und damit leichter erwähnbar und diskutierbar sind. (vgl. Kieserling 1993: 4) Schon in der Phase der Projektanbahnung gibt es eine verständliche Neigung dazu, Veränderungsprojekte an den offensichtlichen Strukturen anzusetzen. Das Top-Management braucht eine Vorstellung, wie viele Ressourcen durch das Projekt gebunden werden. Die vom Projekt betroffenen Linienmanager möchten wissen, was sich in ihrer Organisation ändern soll. Die Berater wollen einen klar formulierten Auftrag haben, um ihre eigene Kostenkalkulation vornehmen zu können und den Personaleinsatz zu planen. Ergebnis ist dann, dass sich schon die Auftragformulierung an den offensichtlichen Strukturen orientiert.

Die Einseitigkeit der Orientierung an den sichtbaren Strukturen fällt häufig erst dann auf, wenn die Veränderungsprojekte auf Widerstände, Überraschungen, Störungen treffen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn ein alle überzeugendes Vorhaben daran scheitert, dass das Machtgleichgewicht zwischen einflussreichen Akteuren durcheinander gebracht zu werden droht. Oder wenn eine Strukturreform, von der alle Beteiligten überzeugt sind, sich nicht durchsetzt, weil sich in der Praxis zeigt, dass die Organisation nach ganz anderen Regeln funktioniert. Oder es wird deutlich, dass eine neu ausgehandelte Aufgabenverteilung nicht wirksam wird, weil es "heimliche Spielregeln" der Organisation gibt, die diese neue Aufgabenverteilung verhindert.

In jeder Organisation sind verborgene Strukturen vorhanden. Sie sind den Organisationsmitgliedern nur begrenzt bewusst und werden kaum thematisiert. Die verborgenen Strukturen treten dabei in zweifacher Form auf.

Die folgende Abgrenzung finde ich unglücklich, weil zwei unterschiedliche Aspekte unter dem Begriff Latenz zusammengefasst werden. Für klärende Hinweise bin ich dankbar.

Die erste Form von latenten Strukturen besteht aus den ausgeblendeten Alternativen in den Organisationen. Theoretisch gibt es in Organisationen immer mehrere Möglichkeiten, um einen Produktionsprozess zu organisieren (oder auch verschiedene Produkte, die produziert werden könnten). Diese nicht genutzten Alternativen werden jedoch in der Organisation unsichtbar gemacht, weil ihre Präsenz den Produktionsprozess verunsichern würde. Man wäre permanent damit konfrontiert, dass man das Produkt ja auch ganz anders herstellen könnte. Der Gedanke, dass man etwas ganz anders machen kann, trägt aber nicht gerade dazu bei, das was man macht, mit großem Enthusiasmus zu tun.

Die zweite Form von latenten Strukturen besteht aus den unsichtbar wirkenden Strukturen, die die manifesten Strukturen stützen, unterlaufen oder konterkarieren. (vgl. ausführlich den Beitrag von Schnelle 2000) Es handelt sich beispielsweise um Machtprozesse in Organisationen. Diese werden häufig nicht thematisiert, weil deren Thematisierung den Einfluss eines Akteurs reduzieren kann. Es handelt sich beispielsweise um die alltäglichen Regelabweichungen in der Organisation, die sich schon deswegen ausbilden müssen, weil die formalisierten Regeln nie so umfassend sein können, dass alle Fälle der Organisation vorausgedacht werden können. Regelabweichungen wirken jedoch im verborgenen, weil sich die "Abweichler" bei einer Offensichtlichmachung dieser Regeln Kritik und Sanktionen aussetzen würden. Auch handelt es sich um professionelle Denkstille, die sich in Organisationen ausbilden. Häufig ist es den Akteuren wichtiger, was ihre Professionskollegen denken als dass, was der Vorgesetzte als richtiges Verhalten betrachtet.

Das Arbeiten mit diesen Latenzen könnte sich als das Spezifische eines soziologischen Beratungsverständnisses ausbilden. Die (zugegebenermaßen durch eigene professionelle Engführungen geprägte) Vermutung ist, dass andere wissenschaftliche Disziplinen wie die Betriebswirtschaftslehre, die Ingenieurswissenschaften oder die Arbeitspsychologie zwar diese Latenzen punktuell wahrnehmen, nicht jedoch über ein umfassendes theoretisches Gerüst verfügen, um diese Latenzen in ein komplexes Organisationsverständnis einzuordnen. Die Einordnung wäre jedoch nötig, um Latenzen in Unternehmen zu erkennen und diese in Beratungsprozessen bearbeitbar zu machen.

Wie kann eine soziologische Beratung jetzt mit diesen Latenzen umgehen? Am einfachsten ist noch die Feststellung, was eine soziologische Beratung nicht kann. Eine soziologische Beratung kann nicht anstreben, alle Latenzen in einer Organisation aufdecken zu wollen. Abgesehen davon, dass ein solches aufklärerisches Unterfangen einem Don-Quichote-Projekt gleichkäme, in dem im Laufe des Aufklärungsprozesses immer neue Windmühlen entstehen würden, würde damit auch die Funktion von Latenzen sträflich missachtet werden. Latenz ist in der Organisation abwesend, aber sie ist notwendig. Sie schützt die Struktur, in dem sie abdunkelt, was wichtig ist, aber nicht gesehen werden sollte. (vgl. Luhmann 1993a: 458f; siehe auch Kieserling 1996: 56; Groth 1999: 79)

Schon in der Diskussion über die lernende Organisation ist herausgearbeitet worden, dass eine Organisation, die alle Handlungsbezüge als Lernakte gestalten würde und die eigene Latenzen sichtbar macht, eine strukturfreie Organisation (und damit keine Organisation) wäre. Jederzeitiges Lernen würde zu einer Auflösung des Systems führen. Die Organisation müsste letztlich auf alles und jedes reagieren. Jeder Impuls würde einen neuen Anstoß für Systemmodifikationen implizieren. (Schreyögg/Noss 1995: 179)

Man kann die für Außenstehende überraschende Ignoranz mancher Manager gegenüber der eigenen Organisation als Ergebnis der Schutzfunktion von Latenz interpretieren. Die Auftraggeber der Berater sind häufig gar nicht an einem richtigen und vollständigen Verstehen ihrer Organisation interessiert, sondern an dem Treffen von "passenden" Entscheidungen. (vgl. Körner 1997: 3) Ein Manager, der versuchen würde alle Probleme, seiner Mitarbeiter, den Markt, die technischen Abläufe komplett zu verstehen, entspräche kaum dem aktuell gehandelten Leitbilder des "Machers", sondern würde wohl eher als utopisch veranlagter "Organisationsversteher" diskriminiert werden.

André Kieserling (vgl. 1993: 1) hat in Anschluss an Luhmann herausgearbeitet, dass die Perspektive des zweiten Blicks einen Luxus darstellt, denn man nicht unbedingt braucht. Ohne den ersten Blick wäre man blind – der Manager würden nicht entscheiden, die Mitarbeiter nicht produzieren, der Außendienst würde nicht verkaufen. Ob der zweite Blick sinnvoll ist, hängt von den Umständen ab: Den Sehende, so Kieserling, kann es verwirren, wenn er die eigene Perspektive auf den Raum reflektieren muss. Denn die Spezifik der Perspektive beruht ja gerade darauf, dass sie sehen lässt, ohne als Perspektive jemals sichtbar zu werden.

Für ein soziologisches Beratungsverständnis ist es deswegen notwendig mit einer doppelten Perspektive an eine Organisation heranzugehen. Der erste Blick ist darauf gerichtet zu verstehen, welche Latenzen in einer Organisation vorhanden sind. Hier würde von einer Fremdbeobachtungsperspektive geschaut werden, welche Aspekte in der Organisation nicht (oder nur sehr eingeschränkt) wahrgenommen werden. Es geht ganz im Sinne der systemischen Beratung darum zu beobachten, welche dominanten Muster die Organisation zur Konstruktion ihrer Realität aufgebaut hat, mit welchen Differenzen primär operiert wird, was sie mit Hilfe der Differenz zu sehen bekommt und was nicht, welche spezifischen Blindheiten sie ausbildet und welche Konsequenzen sich daraus für sie ergeben. (vgl. Wimmer 1992: 75)

Der zweite Blick wäre darauf gerichtet zu schauen, welche Funktion die latenten Strukturen in einer Organisation haben. Hier müsste von Beratern herausgearbeitet werden, ob die latenten Struktur so stark ausgeprägt sind, dass ein Arbeiten an ihnen die gesamte Organisation verunsichern würde. Die Aussage über die Funktion der latenten Strukturen gibt dem Berater Aufschluss, wie stark er diese latenten Strukturen ins Gespräch bringen kann.

6. Das Arbeiten an Latenzen im Prozess der Variation, Selektion und Retention

In der dominierenden Philosophie sowohl der Experten- als auch der Prozessberatung dominiert eine ganz eigene Vorstellung von einer ganzheitlichen Beratungsphilosophie. In einem Veränderungsprozess sollten nicht nach dem Motto "Mitarbeiter sind jetzt fertigmotiviert, jetzt kommt die Entlohnung dran" nur Einzelaspekte der Organisation bearbeitet werden. Vielmehr, so die Vorstellung, sollte ein möglichst integriertes Ansetzen an verschiedenen Stellschrauben stattfinden. Nur so könnte verhindert werden, dass es Inseln der Veränderung gibt, die dann in der Gesamtorganisation untergehen.

Dieses ganzheitliche Verständnis von Beratung äußert sich an zwei Punkten: Erstens setzen Berater häufig in Reorganisationsprojekten an verschiedenen Strukturmerkmalen gleichzeitig an. Es werden gleichzeitig die Hierarchien abgeflacht und die Routinen in der Ablauforganisation verändert. Begleitet wird dies alles durch Schulungsmaßnahmen, in denen die Ängste vor den neuen Aufgaben genommen und die Mitarbeiter zu neuen Verhaltensweisen ermutigt werden sollen. Oder es finden in Krisenzeiten gleichzeitig Personalentlassungen, eine Ausgliederung ganzer Unternehmensteile und die Einführung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien statt. Zweitens gibt es im Sinne dieser Ganzheitlichkeit die Tendenz von Beratern, in Beratungsprojekten gleichzeitig die Findung neuer Handlungsmöglichkeiten, die Auswahl aus den verschiedenen Handlungsalternativen und die Übersetzung einer favorisierten Alternative in neue Handlungsroutinen zu begleiten. Man versteht sich als Experte für alle Schritte eines Beratungsprojektes – von der Problemdiagnose bis zur Evaluation der neuen Handlungsmuster.

Dieser ganzheitliche Anspruch in Bezug auf die Struktur und den Prozess entsteht vermutlich aus der Orientierung an einer ästhetischen Vorstellung von zukünftigen Organisationen. Wenn man ein schönes Bild einer zukünftigen Organisation schafft, dann scheint es notwendig an den verschiedenen Stellhebeln einer Organisation anzusetzen, um nicht nur Bruchwerk zu produzieren. Es scheint einzuleuchten, dass eine Überführung einer Organisation in einen anderen Zustand nicht funktionieren kann, wenn lediglich an einem Aspekt herumgedoktert wird.

Dieses ganzheitliche Beratungsverständnis ist aus einer systemtheoretischen Perspektive in Frage gestellt worden. Luhmann (1995g: 140) spricht davon, dass es "vielleicht nur ein einziges unausweichliches Organisationsgesetz gibt": Es kann in Organisation nicht alles gleichzeitig verändert werden! Erstens wäre es nicht möglich, dass allen Strukturmerkmalen einer Organisation gleichzeitig verändert werden, weil sich dann die Organisation sich gar nicht mehr als eigene Organisation verstehen würde. Zweitens würden sich Akteure übernehmen, wenn sie gleichzeitig sich für die Variationen, Selektionen und Retentionen in einer Organisation verantwortlich fühlten.

Im folgenden soll anhand der drei Ebenen einer Organisationsveränderung Variation, Selektion und Retention herausgearbeitet werden, wie eine an der Rationalitätslücke orientiertes Beratungsverständnis konkret aussehen könnte.

In der Expertenberatung wird die Variation darüber eingeführt, dass die Organisation mit einem fremden Organisationsentwurf konfrontiert wird. Diese Vorgehensweise hat ihren Reiz, weil bei der Forderung nach Selbstorganisation häufig übersehen wird, dass Organisationen nur solche Organisationsstrukturen sich vorstellen können, die in dem Gedächtnis der Organisation angelegt sind. Man organisiert sich in Selbstorganisation, so wie man es aus den "Zeiten der Fremdorganisation" kennt. Die Expertenberatung hat den Vorteil, dass sie diese Gefahr vermeidet, indem sie Modelle aus ganz anderen organisatorischen Zusammenhängen einführt.

Eine soziologische Beratung würde dagegen die Variation eher aus den "Latenzen" der Organisation schöpfen. Die Überlegung dabei ist, dass in diesen Latenzen, der Zugang zu anderen (vielleicht auch erfolgreicheren?) Organisationsstrukturen liegt. In der soziologisch orientierten Beratung sind in letzter Zeit verschiedene Überlegungen angestellt werden, wie mit Fragen nach dem "nicht Vorhandenen" in Organisationen das Ausgeblendete an die Oberfläche zu bringen und für Mitarbeiter besprechbar zu machen ist. (vgl. Beispielsweise Metaplan 1997; Baecker 1997; Fontin 1998)

Mit Fragen nach dem "Nicht" konterkarieren Organisationsgestalter die Tendenz in und von Organisationen, die Beherrschbarkeit dadurch zu sichern, dass paradoxe, widersprüchliche Anforderungen in der Tendenz ausgeblendet werden. Mit den Fragen nach dem "Nicht" können die Seiten eines Dilemmas ans Licht gezerrt werden, die bisher von der Organisation nicht wahrgenommen werden (siehe für erste Überlegungen Kühl 2000: 196). Diese Suche nach den "Nicht-igkeiten" hat einige tiefgreifende Konsequenzen für die Art und Weise wie Veränderungsprojekte organisiert werden.

Eine erste Konsequenz betrifft die Umgangsweise mit Konflikten in Organisationen. Die klassische Vorstellung der Expertenberatung ist es gewesen, dass Konflikte dadurch entstehen, dass sich eine Gruppe von Betroffenen gegen die eigenen rationalen Vorschläge zur Wehr setzt und diese durch Überzeugungsarbeit, Information und – wenn alles nicht hilft – durch Druck zur Einsicht in die Notwendigkeit gebracht werden muss. Die klassische Vorstellung in der Organisationsentwicklung war, dass es darum geht, mit Offenheit, Vertrauen, Ehrlichkeit, Leidens-, Lern- und Veränderungsbereitschaft eine Lösung zu finden, mit der alle Beteiligten sich anfreunden können. Von der Perspektive einer soziologischen Organisationsberatung sind Konflikte jedoch nicht primär Defekte im System oder in der Person, sondern sie entstehen daraus, dass die in jeder Organisation angelegten Widersprüchlichkeiten, Paradoxien und Dilemmata in an Personen gebundenen Konfliktkonstellationen zum Vorschein kommen. In einem Veränderungsprozess auftretende Konflikte können deswegen, so die Idee Luhmanns (1997: 287f), dazu dienen, dass die Organisation ein komplexeres Bild von sich und ihrer Umwelt produziert.

Eine zweite Konsequenz ist die Art und Weise, mit der das Problem in der Organisation definiert und die Ausgangssituation diagnostiziert wird. In der Herangehensweise von klassischen Expertenberatern und Organisationsentwicklern wird in einer der Diagnosephase davon ausgegangen, dass die Organisationswirklichkeit entweder durch partizipative Verfahren oder durch den scharfen Blick des unabhängigen Experten richtig diagnostiziert werden kann. Die objektiv existierende Wirklichkeit soll durch Verschleierungen und Vernebelungen hindurch erkennbar gemacht werden, um mit den eigentlich interessierenden Interventionen an einer möglichst präzisen Problembeschreibung ansetzen zu können (vgl. Neuberger 1990: 150). Eine soziologische Beratung würde an dieser Stelle nicht nur bestreiten, dass eine solche objektiv bestimmbare Wirklichkeit gibt, sondern vielmehr der Diagnosephase eine ganz andere Funktion zuweisen. In der Problemdefinitions- und Diagnosephase geht es darum, die Widersprüchlichkeiten, Paradoxien, Interessensgegensätze sich entfalten zu lassen, um damit in der Anfangsphase eines Projektes eine möglichst hohe Komplexität erzeugen zu können. Es spricht dabei einiges dafür, dass diese Phase der Problemdefinition und Diagnose unter Variationsgesichtspunkten bereits eine zentrale Intervention darstellt und in sinnvoller Weise stark ausgedehnt werden sollte.

Eine dritte Konsequenz ist eine andere Umgangsform mit dem "Widerstand" in Veränderungsprojekten. Der Begriff Widerstand suggeriert, dass sich Mitarbeiter gegen rationale Entscheidungen des Managements, gegen die durchdachten Interventionen der Berater oder gegen eine vermeintlich konsensual getragene Entscheidungen einer Gruppe auflehnen. Mit dem Wort Widerstand wird dabei von interessierten Akteuren, die Art und Weise wie Mitarbeiter die Umwelt der Organisation und die eigene Organisation wahrnehmen sollen, eingeengt. (vgl. Weick 1995: 3) Es wird suggeriert, dass es die eine richtige Sichtweise (die Sicht der Berater, die Entscheidung des Managements, die konsensuale Position der Gruppe) gibt, wie die Umwelt zu begreifen ist. Dieses Einengen von Perspektiven mag hilfreich sein, wenn es darum geht eine stromlinienförmige Organisation entsprechend der Sichtweise von Management oder Beratern aufzubauen. Wenn es darum geht, eine Vielzahl von Perspektiven aufzubauen, ist das vermeintlich widerständige Verhalten immer ein Versuch, eine zusätzliche Perspektive einzubringen oder aufrechtzuerhalten und bietet für den Berater vielfältiges Material, mit dem gearbeitet werden kann.

Eine vierte Konsequenz betrifft die Zurechnung von Problemen und Fehlern auf Personen. Es ist nicht zu bestreiten, dass das Verhalten von Mitarbeitern aus der Perspektive des Managements häufig zu wünschen übrig lässt (und umgekehrt auch das Verhalten des Managements nicht immer den Ansprüchen der Mitarbeiter gerecht wird). Häufig gibt es auch fehlerhafte Abweichungen von den Organisationsprogrammen durch Mitglieder, auf die sich das Management gezwungen sieht zu reagieren. Die Zurechnung von Fehlern auf Organisationsmitglieder und das Arbeiten an dem Verhalten der Mitarbeiter ist für eine soziologische Organisationsberatung jedoch uninteressant, weil sie die für einen Berater interessanten Diskussionen über Organisationsstrukturen abschneidet. Die Fehler werden bei der Personalisierung nicht als Ergebnis des Programms, der organisatorischen Routine, sondern lediglich als Fehler außerhalb des Systems (nämlich des "Menschen") verstanden und damit in die Obhut der Verhaltenstrainer, der Personalabteilung oder im Extremfall der betriebspsychiatrischen Dienst überwiesen. Überspitzt ausgedrückt werden sie damit nicht mehr als Teil des Organisationssystems, sondern als Problem der Person begriffen.

Wie werden jetzt aus den im Beratungsprozess entstehenden Variationen die Selektionen getroffen? In der klassischen Vorstellung von Beratung wurde davon ausgegangen, dass in einem Beratungsprozess eine möglichst rationale Auswahl zwischen verschiedenen Handlungsalternativen stattfindet. Um die beste Entscheidung zwischen den Handlungsalternativen zu treffen, sollten die Folgen der verschiedenen Strategien analysiert und gegeneinander abgewogen werden. Sowohl in der Expertenberatung als auch der Organisationsentwicklung wird die erarbeitete Organisationsstruktur mit großem Werbeaufwand intern vermarktet. Die Mitarbeiter werden in großen Konferenzen zusammengeholt, um über die neue Struktur informiert zu werden. Die neue Struktur wird in Mitarbeiterzeitungen dargestellt und es werden eigene PR-Aktionen gestartet, um für die neuen Maßnahmen zu werben.

Eine an der Rationalitätslücke ansetzende soziologische Beratung trennt sich von der Vorstellung, dass durch einen Beratungsprozess eine optimale Lösung für eine Organisation gefunden werden kann. Wie sollten auch angesichts der widersprüchlichen Ziele in einer Organisation die optimalen Lösungen für eine Situation gefunden werden? Wie könnte bei der begrenzt zur Verfügung stehenden Zeit alle Folgen der verschiedenen erwogenen Alternativen evaluiert werden? Wie sollte man die überhaupt die Hoffnung haben, die optimale Entscheidung zu treffen, wenn man noch nicht einmal alle möglichen Alternativen übersehen kann?

Eine Implikation der Rationalitätslücke in Organisationen ist es, dass ein Urteil wie falsch und richtig nicht existiert. In der mehrdeutigen Welt der Organisation, darauf hat unter anderem Weick (1985: 352) aufmerksam gemacht, sind Entscheidungen lediglich angemessen oder unangemessen. Welche Strategie sich letztendlich dann durchsetzt ist das Ergebnis von organisatorischen Eigendynamiken, zufälligen Marktentwicklungen und zufälliger Interessenskonstellationen.

Ziel eines Beratungsprozesses sollte es deswegen nicht sein, lediglich einen erfolgsversprechenden Zug in das Schienennetz zu setzen, sondern mehrere Züge parallel loszuschicken und zu schauen, wie sich die Züge in dem Netz halten. Dieses Denken widerspricht erst einmal der Vorstellung, dass eine Organisation im Beratungsprozess stromlinienförmig ausgerichtet werden muss. Die verschiedenen Züge können sich kreuzen, sich aneinander andocken, aber sie können auch um ein Gleis kämpfen oder gar kollidieren.

Organisationen sind jedoch so gebaut, dass sie diese verschiedenen auch widersprüchlichen Strategien gleichzeitig zulassen. Diese Situation, die man negativ ausgedrückt als fehlende Fähigkeit zur Strömlinienförmigkeit, Harmonie und Zweckrationalität bezeichnen kann, lässt sich hier dafür nutzen, um verschiedene, widersprüchliche Strategien gleichzeitig zu beginnen (vgl. March 1990b: 200). Es sind organisatorische Fettpolster (slack) vorhanden, die es ermöglichen, dass unterschiedliche Strategien mit Ressourcen ausgestattet werden können. Die Prozesse in Organisationen sind häufig nur locker miteinander gekoppelt, so dass auch widersprüchliches Handeln möglich wird. Und die Organisation ist zu symbolischen Handeln fähig und dies ermöglicht die Mehrdeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten nicht nach außen dringen zu lassen.

In der Phase der Selektion ist es Aufgabe der Berater, die verschiedenen entstehenden, auch widersprüchlichen Konzepte und Ideen gegen das Immunsystem der Organisation zu schützen. Die Resistenz gegen neue Organisationsstrukturen, der bei einer starken PR für eine Maßnahme zu beobachten ist, soll möglichst vermieden werden. Eine effektive Methode ist die Darstellung der Veränderungen als "Experiment", "Erprobung" oder "Versuch". Darüber wird der Eindruck erweckt, dass durch die Reorganisationen nichts festgelegt, sondern alles noch offen und reversible sei, je nachdem zu welchen Ergebnissen man in diesen Prozessen kommt.

Reformexperimente, das hat Luhmann für Universitäten und Verwaltungen gezeigt, dienen dazu, dem Reformern entgegen zu kommen und zugleich den Betrieb gegen die Effekte abzuschirmen. (vgl. Corsi 1995: 83; Luhmann 1997: 290) Die Reformen sind dann keine radikale Umstellung der Gesamtorganisation, sondern vielmehr ein langsames Einsickern in die Gesamtorganisation - ein langsames Normalisieren der Reformen.

Welche Rolle sollten Berater bei der Frage spielen, welche der verschiedenen Erprobungen, Experimente, Reformen sich durchsetzt? Welche Rolle bleibt den Beratern bei der Frage der Retention? Meine Vermutung ist, dass die Luft im Beratungsprozess schon draußen ist, wenn die Phase der Retention erreicht wird. Der Berater ist verbraucht und hat nur noch begrenzt die Autorität, diese Phase der Retention zu begleiten. Vielleicht lässt man ihn noch einen kleinen Reflektions-Workshop über die Erprobungen und Experimente machen. Den Prozess, wie stark Erprobungen, Experimente und Reformen in die gesamtorganisatorischen Strukturen einsickern, beherrschen jedoch vermutlich andere.

6. Weitere Perspektiven für einen soziologischen Beratungsansatz

Auf welche Weise die Rationalitätslücken als Ansatzpunkt für eine soziologische Beratung genutzt werden kann, konnte an dieser Stelle nur angedeutet werden. Wenn sich die "Rationalitätslücke" (und ihre Kinder die Mehrdeutigkeit, die Widersprüchlichkeit und die Paradoxie) als Quellcode für eine soziologische Beratung eignen sollte, dann müsste man von ihr in der Lage sein, konsistente Antworten auf die zur Zeit dominierenden Fragen der Organisationsberatung zu liefern.

Passt sich Begriff der Rationalitätslücke in ein Organisationsverständnis ein, das es ermöglicht Interventionen in Organisationen von Interventionen in Familien, Gruppen oder Funktionssystemen abzugrenzen? Wie gut gelingt es dabei den Organisationsbegriff und Interventionsbegriff aufeinander abzustimmen? Kann man das Konzept der Rationalitätslücke in ein schlüssiges Verständnis von Organisationsstrukturen integrieren? Wie wird Macht in das Konzept der Rationalitätslücken integriert und welche Verbindung gibt es zum Strukturkonzept?

Die Fragen sind nur vorläufig. Vielleicht sind ja auch ganz andere Diskussionsrichtungen im Beratungsdiskurs zur Zeit relevant.

 

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