Stefanie Krug

Integrationsschwierigkeiten, Integrationsmöglichkeiten – Qualitative Forschungsansätze für die Praxis.

1. Anwendungsorientierte Forschung im hochschulfreien Kontext

Der empirische Hintergrund meines Beitrags ist ein vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) gefördertes Verbundprojekt. In diesem Rahmen sollen neue Tätigkeitsfelder und Beschäftigungsnischen für eine Zielgruppe erschlossen werden, die aufgrund einer spezifischen Sinnesbehinderung (die häufig mit multivariablen Einschränkungen einher geht) beschäftigungspolitisch als schwer vermittelbar gilt. Insgesamt besteht der Verbund aus drei Non-Profit-Organisationen, die unter unterschiedlichen Voraussetzungen dasselbe Ziel verfolgen. Das von mir geleitete Teilprojekt ist angesiedelt bei einer großen Stiftung zur Ausbildung und Förderung von blinden und sehbehinderten Menschen, die alle Sozialisationsinstanzen von der Frühförderung bis zur Berufsausbildung und Eingliederung in den Arbeitsmarkt umfasst.

Im Zuge der Etablierung von nationalen und transnationalen, aus Mitteln der Länder, des Bundes und der Europäischen Union bereitgestellten Förderprogrammen ist hier – an der Schnittstelle zwischen wissenschaftlicher Forschung und gesellschaftlicher, genauer: bildungs- und beschäftigungspolitischer Praxis – ein neues Marktsegment entstanden, in dem hochschulfreie Institute für angewandte Arbeitsmarkt-, Berufs- und Sozialforschung an Bedeutung gewonnen haben und zunehmend erfolgreich mit Universitäten und anderen Hochschularten um Forschungsaufträge und die wissenschaftliche Begleitung von Modellversuchen konkurrieren.1

Charakteristisch für solche Projekte ist dreierlei:

  1. dass sie in den hauseigenen, im Zuge der Projektförderung gewachsenen FuE-Abteilungen von Bildungseinrichtungen jedweder Couleur (wirtschafts-, gewerkschafts-, parteinahe, konfessionelle, freie Träger etc.) konzipiert werden;
  2. dass die Richtlinien der Programme die Förderung an die Erzielung beschäftigungspolitischer Effekte (Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit, Chancengleichheit von Frauen und Männern, Beschäftigungsförderung von Personen mit besonderen Integrationsproblemen etc.) und die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit von Betrieben – insbesondere kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) gegenüber Großbetrieben und Konzernen (Global Players) – binden;
  3. dass sie grundlegende Forschungsfragen und konkrete Entwicklungsaufgaben bereits im Ansatz miteinander verbinden und wissenschaftliche Erkenntnisproduktion unmittelbar problemlösungs- und handlungsorientiert für die Umsetzung und Weiterentwicklung von praxisrelevanten Bildungskonzepten und Beschäftigungsinitiativen in Dienst nehmen.2

Damit ist mit wenigen Pflöcken ein Feld abgesteckt, bei dem es sich weder um originäre Grundlagenforschung über einen in der Arbeitswelt angesiedelten Gegenstand handelt, noch um im engeren Sinne auf Profitmaximierung oder Prozessoptimierung ausgerichtete Auftragsforschung/Organisationsberatung, die direkt im Anwendungskontext von Unternehmen oder Öffentlichem Dienst angesiedelt ist. Für Projekte in diesem Bereich werden – anders als bei universitärer Grundlagenforschung – zwar Zielvorgaben teilweise von außen gesetzt; aber im Gegensatz zur typischen Auftragsforschung bewegen sich diese Ziele in einem weiteren gesellschaftlichen Kontext und überschreiten grundsätzlich den Horizont eines einzelnen Unternehmens bzw. einer einzelnen Organisation. Ich betone diesen ‚dritten Weg’, weil er in der gegenwärtigen Fachdiskussion über Arbeitskulturen unterbelichtet ist. Die Dichotomisierung von Wissenschaft und Wirtschaft, die Forschung und Anwendung aus Prinzip getrennt sieht, greift in diesem Kontext so wenig wie die Dichotomisierung von Wissenschaft und Praxis, was mir für das Vorzeichen dieser Tagung, den Dialog zwischen Wissenschaftlern und "Praktikern" zu befördern, bedeutsam erscheint.

Und so möchte ich an dieser Stelle festhalten: Ein Diskurs, der lediglich von außen kommende Grundlagenforschung zu interner Unternehmens-/Organisationsberatung ins Verhältnis setzt, übersieht, dass es nicht nur Verschiebungen zwischen universitärer Wissensproduktion einerseits und gesellschaftlicher Anwendung andererseits gegeben hat; vielmehr kommt hier ein drittes Referenzsystem oder eine dritte Instanz ins Spiel, nämlich ein außerhalb der Hochschulen und außerhalb der beforschten Unternehmen und Organisationen liegender Forschungskontext mit einer eigenen Logik und eigenen Gesetzen.

2. Anforderungen der Praxis an die Forschung oder das Ringen um die Wertschöpfung der Methoden

Zu Beginn des dreiphasigen Projektes (1. Erhebungs-, 2. Konzeptions-, 3. Umsetzungs- und Auswertungsphase) wurden rund 300 Frauen und Männer befragt, die einen behindertenspezifischen Ausbildungsgang absolviert und anschließend versucht haben, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Parallel dazu lief eine repräsentative Unternehmensbefragung (900 privatwirtschaftlich geführte Betriebe plus 100 öffentliche Verwaltungen), die Aufschluss über die Aufnahmekapazität und –bereitschaft von Arbeitgebern im Segment sogenannter Einfacharbeitsplätze geben sollte. Diese wurde von einem renommierten außeruniversitären Sozialforschungsinstitut durchgeführt, das auf quantifizierende Erhebungen spezialisiert und mit der wissenschaftlichen Begleitung des gesamten Projektes beauftragt ist. Auf diese Weise sollten im Vorfeld wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse darüber gewonnen werden, welche Faktoren die Eingliederung in die Arbeitswelt (aus Sicht der Zielgruppe und der Arbeitgeber) erschweren oder blockieren und – mit Blick auf die Umsetzung vor allem: welche sie erleichtern und begünstigen.

Der Forschungsplan sah als Erhebungsinstrument für die Zielgruppenbefragung vollstandardisierte Interviews vor, die von den Projektpartnern telefonisch durchgeführt und hinsichtlich quantifizierbarer Ergebnisse ausgewertet werden sollten. Das Sample war mit einer Bruttofallzahl von je circa 250 Personen pro Ausbildungseinrichtung so groß angelegt, dass die auf wenigstens 50 Prozent geschätzte Nettoausschöpfung eine statistische Auswertung erlauben würde.

Mit dieser Vorgehensweise können – bezogen auf die einzelnen Teilaspekte des Erkenntnisinteresses wie Motivation und Bildungsbereitschaft, Arbeitszufriedenheit und finanzielle Sicherung, Mobilität und Berufswegplanung etc. – statistisch fassbare Größen ermittelt, korreliert und zu richtungsweisenden Hinweisen über hemmende und fördernde Faktoren verdichtet werden. Unterbelichtet bleiben bei dieser Art von Datenanalyse Impulse und Argumentationsketten der Befragten, die jenseits des vorgesehenen Analyserasters liegen, sowie qualitative Aspekte, die sich einer objektivierbaren Faktorenanalyse entziehen.

Die Tatsache, dass die Zielgruppenbefragung nicht von einer anonymen außenstehenden Instanz durchgeführt wurde, sondern von der Institution, die die persönliche und berufliche Entwicklung der betreffenden Personen maßgeblich geprägt hat, lässt eine rein standardisierte Befragung ohne jeden Spielraum für persönliche Rückkoppelungen meines Erachtens äußerst fragwürdig erscheinen – erst recht, nachdem sich einzelne Erhebungsfragen des aus der Arbeitslosenforschung vorgegebenen Rasters auf durchaus existentielle Dimensionen beziehen ("Ich sehe keinen Sinn mehr in meinem Leben" – trifft zu/trifft nicht zu).3 Aber auch jenseits dieses forschungsethischen Aspekts kamen schon bald erhebliche Zweifel daran auf, ob mit rein quantifizierenden Methoden die integrationsschädlichen/-förderlichen Momente erfasst und begriffen werden können, weil diese mutmaßlich sehr eng mit lebensweltlichen Erfahrungen und weichen Faktoren zusammenhängen.

Ursprünglich stellte der Projektentwurf ausschließlich auf die Sammlung "objektiver Daten" und "harter Fakten" ab. Nach teilweise recht schwierigen Auseinandersetzungen über den im Antrag zugrunde gelegten Wissenschaftsbegriff ist es mittlerweile gelungen, das Forschungsdesign ein Stück weit für ethnografische Methoden und qualitative Analysen zu öffnen. Eine begrenzte Zahl von biografischen Fallstudien, die federführend für alle Projektpartner von Stuttgart aus vorgenommen werden, soll die Ergebnisse der Hauptstudie unter folgenden Gesichtspunkten ausdifferenzieren und anreichern:

  1. Gibt es bei vergleichbarer Behinderung unterschiedliche Umgangsweisen und Bewältigungsstrategien (Frustrationstoleranz, Integrationsfähigkeit, Sozialverhalten etc.)? Wenn ja, woran liegt das?
  2. Was für eine Konstruktion von Behinderung ist der Zielgruppe von den einzelnen Sozialisationsinstanzen (Familie, Schule, Ausbildung, Beruf etc.) hinsichtlich ihres Selbstwertgefühls und Leistungsvermögens vermittelt worden? Welche Konsequenzen hat dies für die berufliche Eingliederung?
  3. Welche persönlichen Lebensumstände, Bildungsmaßnahmen und sonstigen Unterstützungsangebote (behindertenspezifische Sozialisation, Berufswahlentscheidung, Eingliederungshilfen etc.) werden als förderlich erlebt?
  4. Wie und in welchen Zusammenhängen werden berufsrelevante Schlüsselqualifikationen (Kommunikations- und Teamfähigkeit etc.) und extrafunktionale Kompetenzen (Flexibilität, Eigeninitiative etc.) erworben? Durch welche Bildungsangebote kann dieser Bereich gestärkt werden?
  5. Wo siedeln die Betroffenen selbst die Gründe für Erfolg oder Scheitern bei der beruflichen Eingliederung an? (bei sich selbst, der Ausbildungseinrichtung, den Arbeitgebern?)
  6. Wie nehmen die Personen sich und ihre Fähigkeiten wahr und wie stellen sie sich dar? (Selbsteinschätzung / Selbstmarketing)

In der Form von ExpertInneninterviews (Kostenträger, Arbeitsverwaltung, Kammern etc.) wurde ebenfalls einer Öffnung des Forschungsdesigns für ethnografische Methoden zugestimmt und damit ein weiteres Element qualitativer Sozialforschung eingebaut: In leitfadengestützten Interviews sollen die ExpertInnen mit den Ergebnissen der Unternehmens- und der Zielgruppenbefragung konfrontiert und um Stellungnahmen gebeten werden, die ihrerseits wiederum in den Forschungsprozess zurückfließen und ausgewertet werden.

Qualitative Ansätze schienen teilweise auch bei der wissenschaftlichen Begleitung durch das externe Forschungsinstitut anvisiert zu sein: Im Forschungsplan ist vorgesehen, im Anschluss an die repräsentative Unternehmensbefragung 10 bis 20 qualitative Arbeitsplatzanalysen in Betrieben vorzunehmen, die beim Screening Panelbereitschaft erklärt hatten. Wenngleich mir dieser Ansatz in der Hand von Statistikern einigermaßen überraschend erschien, ging ich nach Vorgesprächen zum Verfahren davon aus, dass der Part ethnografischer Unternehmensforschung damit abgedeckt sein würde, und meldete lediglich mein Interesse daran an, bei den Betriebserkundungen teilzunehmen.

Inzwischen hat das Institut den Arbeitsauftrag extern an eine Gesellschaft vergeben, die sich auf behindertenspezifische Arbeitsplatzanalysen spezialisiert und – aus öffentlichen Fördermitteln im Rahmen eines Projektes – ein Instrument zur Eingliederung von Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt entwickelt hat. Die Auseinandersetzung mit dieser Methode führte mich zu der Erkenntnis, dass Begriffe wie komplexe Fallstudien und qualitative Ansätze in der anwendungsorientierten Forschung teilweise adaptiert und entfremdet worden sind. Zwar enthalten sie mit teilnehmender Beobachtung und Interviews einige Bestandteile, die einem kulturwissenschaftlichen Verständnis von ethnografischen Methoden entsprechen; im Kern handelt es sich jedoch um ein vollstandardisiertes Assessmentverfahren, das auf der Grundlage eines feststehenden Itempools einen Profilvergleich zwischen dem speziellen Anforderungsprofil des Arbeitsplatzes und dem individuellen Fähigkeitsprofil der arbeitsplatzsuchenden Person vornimmt.

Maßgabe für den Projekterfolg ist letztendlich die unter dem Strich erzielte Vermittlungsquote. Aus diesem Grund – man könnte sagen: wegen der Neigung zu einem objektivistischen oder positivistischen Wissenschaftsverständnis nicht nur der Disziplinen, die den ‚neuen Markt’ anwendungsorientierter Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Berufsforschung dominieren, sondern auch der Finanziers und ‚Abnehmer’ (Ministerien, Arbeitsverwaltung, Wirtschaft), die sich im Endeffekt vor allem für Quoten interessieren, kaum aber dafür, wie diese zustande kommen – haben qualitative Forschungsansätze eine schwere Beweislast zu erbringen. Anders als quantifizierende Messverfahren stehen sie unter Verdacht, eher den Charakter von illustrierendem Beiwerk und subjektiv gefärbten (= verzerrten) Erfahrungsberichten als von wissenschaftlichen (= objektivierbaren) Ergebnissen aufzuweisen. Dennoch gibt es Anzeichen, die auf wachsende Akzeptanz hindeuten: Der Stuttgarter Ergänzungsantrag ist – freilich bescheiden dimensioniert, da nur bedingt vom Forschungsplan abgewichen und nicht die ganze Projektskizze in Frage gestellt werden konnte – vom BMA anstandslos genehmigt worden; zudem haben qualitative Ansätze das Interesse der Medien – als nicht unwesentlichen Erfolgsindikator – auf ihrer Seite.

Schützenhilfe gibt es auch von anderer Seite. Dieter Blaschke vom Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesanstalt für Arbeit meldet Zweifel an am etablierten Instrumentarium der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bzw. dessen Eignung, verwertbare Einsichten zu gewinnen. Er vertritt die These, "dass wir nicht an zu wenigen oder unzureichenden statistischen Verfahren, sondern an einem Überfluss an wenig aussagefähigen Daten leiden." Oft seien die verfügbaren Daten Nebenprodukte des Verwaltungshandelns, die zuerst als Tätigkeitsnachweis und aus Gründen der Wirtschaftlichkeit genützt würden. Dabei täusche der Datenüberfluss über den Mangel an wirklich brauchbaren Daten hinweg.

Blaschke kritisiert außerdem, dass die in großen Mengen erhobenen Daten oft nur die ohnehin bekannten Sozialfiguren reproduzieren, indem sie beispielsweise die Schwierigkeiten gering Qualifizierter, Behinderter oder Langzeitarbeitsloser statistisch untermauern – was wiederum die Stigmatisierung befestigt und Personalverantwortliche in ihrer skeptisch-ablehnenden Haltung bestätigt. Im Falle unseres Projekts könnte zum Beispiel die Information, dass die meisten Arbeitgeber keine Blinden und Sehbehinderten einstellen, dazu führen, dass dies auf potenzielle Kooperationsbetriebe abschreckend wirkt – obwohl der Entscheidung gegen die Zielgruppe keine Erfahrung, sondern neben möglichen Vorurteilen vor allem Unkenntnis (etwa über die Einsatzmöglichkeiten Blinder und Sehbehinderter, staatliche Fördermittel oder den Aufwand einer behindertengerechten Arbeitsplatzgestaltung) zugrunde liegt. Blaschke plädiert deshalb dafür, bei anwendungsorientierter Forschung im Interesse der jeweiligen Zielgruppe selektiv mit positiven Beispielen oder ‚Models of good practice’ zu arbeiten.4

Bleibt festzuhalten: Auf den ersten Blick sehen sich Grundlagenforschung und anwendungsorientierte Forschung zum Verwechseln ähnlich. Tatsächlich trennen sich die Wege schon bei der Formulierung des (im einen Fall ergebnisoffenen und im anderen Fall auf Handlungsempfehlungen fokussierten) Erkenntnisinteresses und noch deutlicher bei der Darlegung von Ergebnissen. Während Grundlagenforschung darauf ausgerichtet ist, sich durch distanzwahrende gesellschafts- und sozialkritische Analysen auszuweisen, deren Auftrag bei der Offenlegung von komplexen Zusammenhängen und Wirkungsmechanismen endet, muss sich anwendungsorientierte Forschung per Definition der Frage nach der konstruktiven Umsetzbarkeit von Ergebnissen stellen und die negativen Folgen der Rezeption einer kritischen Verbleibs- und Wirkungsforschung einkalkulieren.

3. Qualitative Ansätze als Element der internen Organisationsentwicklung

Um das Projektziel "Erschließung von neuen Arbeitsplätzen" zu erreichen, drängte sich schon bald der Gedanke auf, die Leitfrage nach für die berufliche Eingliederung förderlichen bzw. hinderlichen Faktoren nicht nur auf die Arbeitswelt (Unternehmensbefragung, Arbeitsplatzanalysen, ExpertInneninterviews) und die ehemaligen RehabilitandInnen (Zielgruppenbefragung, Fallstudien), sondern auch auf die Rolle der Ausbildungseinrichtung zu beziehen. Dabei lag die These zugrunde, dass es zur Problemlösung nicht ausreichen würde, dem bestehenden Angebot neue Qualifizierungsmaßnahmen für neue Arbeitsfelder hinzuzufügen, sondern sich darüber hinaus unter Umständen auch ein gewisser Veränderungsbedarf hinsichtlich des bestehenden Ausbildungsangebots ergibt.

Die Überlegungen gingen beispielsweise in folgende Richtungen: Passen die Ausbildungsinhalte in den bestehenden Ausbildungszweigen noch mit den Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt zusammen? Sind die Jugendlichen nach der überbetrieblichen Ausbildung in einem blinden- und sehbehindertenspezifischen Umfeld ausreichend für den Wechsel in den öffentlichen Arbeitsmarkt gewappnet? Haben sie – abgesehen von fachlichem Know-how – genügend gelernt, sich zu Menschen ohne Behinderung in Beziehung zu setzen? Daraus ergab sich ein weiterer, im vordefinierten Forschungsauftrag nicht enthaltener Ansatzpunkt für qualitative Ansätze und ethnografische Methoden, nämlich die Zugehörigkeit des Projektes zur Stiftung für teilnehmende Beobachtung und die Exploration gängiger Vorstellungen und Erfahrungen im sozialen Kontext der Ausbildungseinrichtung zu nutzen. Die von mir forcierte Suchrichtung umfasste

Dass mir für meine Recherchen Zugang zum Regelbetrieb und zu internen Informationsquellen gewährt wurde, wäre so mit Sicherheit nicht möglich gewesen, wenn nicht zwei Bedingungen erfüllt gewesen wären: Erstens war für die Leitung ein konkreter Nutzen meiner Bestrebungen erkennbar, und zweitens konnte sie sich eines verantwortlichen Umgangs mit den gewonnenen Erkenntnissen sicher sein. Ein verantwortlicher Umgang heißt – und hier komme auf meinen zweiten Punkt zurück –: dass das gesammelte Material nicht in Form einer problematisierenden Defizitanalyse, sondern unter dem Gesichtspunkt konstruktiver Verbesserungsvorschläge verarbeitet wird. Fortan ging es neben dem explizit definierten Gegenstand, neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu erschließen, implizit auch darum, die Projektergebnisse als Beitrag zur Qualitätsentwicklung und Anschlussfähigkeit der Ausbildungseinrichtung fruchtbar zu machen.

Ich will dies abschließend mit einem Beispiel verdeutlichen: Bei den standardisierten Telefoninterviews wurde den aktuell erwerbstätigen AbsolventInnen die Frage gestellt: "Wie viel von den Kenntnissen und Fertigkeiten, die Sie in der Ausbildung erworben haben, können Sie bei Ihrer derzeitigen Tätigkeit verwerten?" Als Antwortmöglichkeit konnte gewählt werden zwischen "sehr viel", "viel", "einiges", "wenig" oder "sehr wenig bzw. gar nichts". Anstatt es beim Ankreuzen der entsprechenden Antwort zu belassen, wurde in Stuttgart mit der Anschlussfrage nach dem Warum nachgesetzt und um eine kurze Erläuterung in Form eines Beispiels gebeten (falls dieser Impuls nicht schon ohne besondere Aufforderung vorhanden war).

Die entsprechenden Schilderungen sind naturgemäß nicht in die statistische Auswertung eingeflossen, sondern – bei markanten Äußerungen in wörtlicher Rede, bei längeren Sequenzen paraphrasiert – in Begleitnotizen und Gedächtnisprotokollen zu den Interviews festgehalten, systematisiert und ausgewertet worden. Im nächsten Schritt wurden sie zusammen mit einigen Thesen in den zuständigen Gremien der Stiftung vorgestellt und diskutiert. Anschließend wurde gemeinsam beraten, wie die Rückmeldungen zur Verwertbarkeit von Ausbildungsinhalten aus Sicht der Einrichtung zu bewerten sind und welche Punkte aufgegriffen und weiter bearbeitet werden sollten. Die Ergebnisse waren den betreffenden Personen allesamt nicht neu und inhaltlich offenbar nur wenig überraschend. Überraschend war vielmehr, dass sich hier mit Hilfe der Zwischenstellung des Projektes eine Möglichkeit und ein Anstoß bot, die altbekannten neuralgischen Punkte nochmals neu ins Visier zu nehmen, Position abzuklären und Handlungsbedarf zu bestimmen.

Die Bereitschaft, ethnografische Methoden zuzulassen, hängt nach meiner Beobachtung stark von der Art des jeweils betriebenen Qualitätsmanagements ab; ich wage die These, dass nur in einem institutionellen Rahmen, in dem abgeflachte Hierarchien und ein kooperativer Führungsstil vorherrschen und mit prozess- und personenorientierten Formen der Leistungsverbesserung korrespondieren, mit Rückhalt und Aufgeschlossenheit gegenüber qualitativer Sozialforschung zu rechnen ist.

Anmerkungen:

1 Vgl. Sloane, Peter F.: Berufspädagogik und Wirtschaftspädagogik im Spiegel der Forschung: Forschungsberichte des DGfE-Kongresses 1998. Opladen 1999. BIBB (Hg.): Modellversuche in der beruflichen Bildung. Bonn 2000.

2 Vgl. zu den Förderrichtlinien etwa: Land Baden-Württemberg / Europäische Union – Europäischer Sozialfonds: Gemeinsamer Leitfaden des Sozialministeriums, des Wirtschaftsministeriums, des Kultusministeriums, des Ministeriums Ländlicher Raum und des Wissenschaftsministeriums für die Förderung aus dem Europäischen Sozialfonds – Ziel 3 – in der Förderperiode 2000 – 2006.

3 Letztlich wurde diese und einige weitere Fragen dieser Art aus dem Pool zur Verfügung stehender Erhebungsfragen herausgenommen, da das Stuttgarter Projekt deren Verwendung ablehnte.

4 Blaschke, Dieter: Problemhintergrund der Verbleibs- und Wirkungsforschung bei Behinderten und bei anderen Zielgruppen der Arbeitsmarktpolitik. S. 131 – 143. In: Niehaus, Mathilde / Montada, Leo (Hg.): Behinderte auf dem Arbeitsmarkt. Wege aus dem Abseits. Frankfurt/Main; New York 1997.